Es gibt sehr seltene Momente, in denen ich mich - als notorische "Mein Handy muss alles können, telefonieren ist nebensächlich"-Antistreiterin - geradezu gräme, dass ich keine Möglichkeite habe, mit meinem Handy Schnappschüsse zu machen. Es gibt einfach Motive, die sind schwer bis gar nicht in Worte zu fassen.
So sah ich doch heute auf dem Nebenbahnsteig meines Zuges, der mich zurück in die Kleinstadt bringen sollte, die erste Entgleisung dieses Sommers, obwohl der noch lange nicht in Sicht ist: Ein Mann, der trotz der Bierflasche in seiner Hand noch wirkte, als hätte er alle Sinne beisammen, schoss den Vogel der Geschmacklosigkeit ab.
Seine schulterlangen, stufig geschnittenen schwarzen Haare waren ob des übermäßigen Gebrauchs der Geltube völlig ihrer natürlichen Bewegungsfreiheit beraubt. Ihr unnatürliches Glänzen ließ meine vielbemühte Augenbraue augenblicklich hochschnellen. Das Hemd, das er trug, ließ mich jedoch schockiert innehalten: Kurzärmlig, knallorange, mit undefinierbaren und ebenso sinnlosen wie übeflüssigen Mustern bedruckt kam es daher, was mir ein mitleidiges Lächeln entlockte. Doch noch als viel schlimmer erwies sich die Tatsache, dass der gute Mann offensichtlich kaum Lust gehabt hatte, dieses Hemd auch vernünftig zuzuknöpfen. Und so hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, seine mehr als stark behaarte Brust bis zu seinem Bauchnabel bewundern zu dürfen.
Jetzt weiß auch ich - trotz des immer regenverhangenen Himmels und nicht wegen der zum Glück höher gestiegenen Temperaturen -, dass der Frühling naht. Mit all seinen wunderbaren Sonnenstrahlen, grünen Bäumen, sprießenden Blumen und all seinen modischen Entgleisungen.
Dabei wäre es mir wirklich lieber gewesen, mich wie
Lunula auf die Eröffnung der mittelalterlichen Saison zu freuen. Leider hatte ich noch gar keine Zeit, meinen Terminkalender entsprechend zu bestücken. Das steht aber - erst recht nach diesem Hemd-Erlebnis - ganz oben auf meiner Prioritäten-Liste. Gleich nach einem langen, bedächtigen, erholsamen Spaziergang im Wald.